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Sabine Gründken
Vergißmeinnicht
An seinem Grab blieb ich stehen. Auf einem hölzernen Kreuz stand sein Name in schwarzen Buchstaben. Das Grab war mit herbstlichen Blumen bepflanzt. Ich steckte einen Strauß Vergissmeinnicht in die viel zu große Vase. Um diese Jahreszeit war es nicht einfach gewesen, Vergissmeinnicht zu bekommen.

„Es war ein schwerer Herzinfarkt. Er hat sich schließlich aufgegeben!“ Ich erschreckte, als ich die zarte Stimme neben mir hörte. Seine Frau? Vor ihrer Hochzeit hatte ich sie einmal gesehen.

„Haben Sie mir seine Todesanzeige geschickt?“, fragte ich unsicher.“ Sie nickte. „Warum?“, wollte ich wissen. „Woher hatten Sie meine Adresse?“ Sie schaute auf die Vergissmeinnicht. „Aus seiner Brieftasche. Ich weiß, was er Ihnen bedeutet hat. Wir waren immer füreinander da, haben die Kinder groß gezogen und ein schönes Zuhause gehabt. Es war ein gutes Leben mit ihm, aber geliebt hat er Sie. Er konnte Sie nicht vergessen. Sie leben von uns aus weit entfernt. Selten hatte er die Möglichkeit Sie zu besuchen. Wenn Sie sich mit ihm getroffen haben, war er verändert. Er zog sich zurück, war tief in sich gekehrt. – Sehnsucht? Er war traurig, ich konnte ihm nicht helfen. Ich fand jedoch meinen eigenen Weg. Etwas was mir geholfen hat.“

Ich wollte nicht glauben, was sie sagte. Wie ruhig sie da stand! Ich kramte in meinem Pelzmantel nach Streichhölzer um ein Grablicht anzuzünden. Dabei erinnerte ich mich daran was vor 30 Jahren war. „Er wollte mich heiraten. Er hat mir damals einen Antrag gemacht. Ich habe ihn abgelehnt. Fühlte mich zu jung, wollte noch im Ausland studieren...“ Dann stockte ich, „Nein ehrlich gesagt, war er mir nicht gut genug. Ich komme aus einem reichen, angesehenen Elternhaus. Er hätte mir das Alles nicht bieten

können, was ich gewohnt war. Seine Welt war mir zu klein, zu primitiv. Die Pferde, sein abgelegener, kleiner Hof, die viele Arbeit über das ganze Jahr. Ich war es nicht gewohnt, körperlich so hart zu arbeiten. Er war ein gut aussehender Mann, er war so zufrieden. Ich habe ihn nie vergessen können. Immer wieder habe ich mir gewünscht, er würde mich noch einmal fragen, doch er hat Sie geheiratet.“
Tränen stiegen mir in die Augen. Sie stand noch ruhig neben mir. Wir schauten uns nicht an.

„Haben Sie nicht geheiratet?“ Jetzt blickte ich in ihr Gesicht. Die Kälte hatte ihre Wangen gerötet und der Wind strich durch das ergraute Haar. Ihr Gesicht strahlte. „Ich habe zweimal geheiratet!“, erwiderte ich. „ Beide Ehen sind leider gescheitert. Mein einziges Kind ist vor fünf Jahren verunglückt. Er ist mit dem Flugzeug abgestürzt.“
„Das tut mir Leid!“ sprach sie. Sie steckte ihre Hände in die ausgebeutelten Manteltaschen, überlegte kurz und erklärte weiter: „Wenn man keinen Abschied genommen hat bleibt vieles offen. Von Erinnerungen kann man nicht leben. Sie machen nicht satt. Sie haben mich nicht verletzt, weil Sie seine Liebe waren. Sie haben sich selber damit zerstört. Warum haben Sie sich nicht für das Leben entschieden?“
Aus ihrer Manteltasche nahm sie ein Streichholz und zündete die Grabkerze an. Dann drückte sie mir die Kerze in die Hand.

„Ich muss gehen, mein Leben wartet!“, sprach sie mit einem Lächeln. Dann ließ sie mich alleine zurück und ging langsam auf eine Bank zu. Dort saß ein Mann, der nahm sie im Arm. Eng umschlungen verließen die zwei den Friedhof.
Einsam stand ich vor seinem Grab. Das brennende Licht in meinen Händen. Ich dachte an ihre Worte. Ich hatte aufgehört zu leben, genau so wie er. Das Licht stellte ich auf seinen Grab, dann ging ich, wie immer.